Kulturaustausch Querbeet

Die Kopie – Potenziale und Tabus

Shanzhai-Kopie des chinesischen EXPO-Pavillons in Chongqing, Foto: Zhong Guilin © ImagineChina
Shanzhai-Kopie des chinesischen EXPO-Pavillons in Chongqing, Foto: Zhong Guilin © ImagineChina
Shanzhai-Kopie des chinesischen EXPO-Pavillons in Chongqing
Foto: Zhong Guilin © ImagineChina


Die importierte Moral

Vor fünf oder sechs Jahren fiel mir in einem Berliner Kino nahe dem Zoo ein Plakat gegen das Raubkopieren auf. Die Raubkopierer, deren Köpfe darauf im Großformat abgedruckt waren, waren fast allesamt zerknirscht dreinblickende Jugendliche. Ich war regelrecht schockiert darüber, dass man die Schwarzkopierer derart an den Pranger stellte.

In puncto Raubkopie gehen die Meinungen der Chinesen und der Europäer oder Amerikaner weit auseinander. Als von dem Roman eines Freundes immer wieder Raubdrucke auftauchten, jammerte der zwar über die verlorenen Tantiemen, klang dabei aber nicht besonders empört. Erstens ist „Die Entwendung eines Buches […] kein Diebstahl“ – so der Gelehrte Kong Yiji (孔乙己) in Lu Xuns (鲁迅) gleichnamiger Erzählung – und zweitens ist die Raubkopie wie eine Wetterfahne für Bestseller. Die Chinesen wissen wohl um die Illegalität von Raubkopien. Dass man das Copyright in seiner Heiligkeit nicht verletzen darf, ist auch denjenigen, die nicht direkt davon profitieren, zwar bekannt, jedoch noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Die Idee des geistigen Eigentums hat man uns eingepflanzt, und ausländische Gesetze lassen sich einschiffen, doch die Verinnerlichung dieser Moral lässt auf sich warten.

Da die chinesischen Behörden seit ein paar Jahren auf Druck der internationalen Öffentlichkeit gegen Urheberrechtsverletzungen vorgehen, wird sich die chinesische Bevölkerung des Copyrights mehr und mehr bewusst. Trotzdem gibt es immer noch Leute, die meinen, das ginge sie persönlich nichts an, oder die in einem Wortspiel aus der „Raubkopie“ (daoban 盗版) eine „redliche Kopie“ (daoban 道版) machen und provokant behaupten, das sei doch ganz in Ordnung. Grund genug, einmal der Frage nachzugehen, warum man in China über diese „redliche“ Sache so anders denkt.

Polizei sichtet DVD-Raubkopien in Peking © Beijing Times/ImagineChina
DVD-Raubkopien in Peking © Beijing Times/ImagineChina


Von der Imitation zur Reproduktion

Das Copyright ist ein von Menschen erdachtes System, die Reproduktion an sich kennt keine moralische Qualität. Blickt man sich einmal um, findet man schwerlich etwas, das nicht kopiert wäre. Beim Surfen im Internet erstellt man mit jedem noch so unbewussten Mausklick eine Reproduktion. Jeden Abend erzeugen die Lichter, Displays und LCD-Bildschirme in den Haushalten ihr facettenaugengleiches Glimmern. Die Dynamik, von der sowohl Mediengesellschaft als auch mediengesteuerte Politik gleich einem Perpetuum Mobile abhängen, beruht auf Vervielfältigung.

Während der Wunsch, etwas zu kopieren, alt ist, wurde Vervielfältigung erst ab einem bestimmten technischen Entwicklungsniveau möglich. Angefangen bei Bronzeguss und Steingravuren, über Drucktechniken, Fotografie und Film bis hin zum heutigen Einzug digitaler Geräte in die Familien, wurde es zunehmend zum Kinderspiel, eine Kopie zu ziehen. Das Duplikat ist weder künstlerisch noch moralisch befangen. Es kann den Platz des Originals einnehmen und wird noch für seine Ähnlichkeit bejubelt. Im Zeitalter mechanischer Reproduzierbarkeit entpuppt sich das Original, dessen Wert mit der Anzahl der Kopien steigt, immer mehr als ein Gefühl von Heimweh. Aus der digitalen Produktwelt ist das Original sogar ganz verschwunden. Was bleibt, sind unzählige, ins Unendliche laufende Informationsketten aus Nullen und Einsen. Doch der Mensch hat längst nicht beim Kopieren von Gegenständen Halt gemacht. Nachdem er erfolgreich Frösche, Goldfische, Schafe und menschliche Organe geklont hat, möchte er nun auch noch den Menschen klonen oder das „Teilchen Gottes“ reproduzieren.

Durch die Reproduktionstechniken hat sich das Wissen unwiderruflich gewandelt, sie verändern unser Empfinden und unsere Kommunikation. Man erinnere sich daran, wie das täuschend echte Abbild der frühesten Fotografien und der ersten Filmaufnahme dem Menschen durch Mark und Bein fuhr: Er argwöhnte, der Fotograf, der sich hinter dem Kasten und unter dem schwarzen Tuch versteckte, würde durch Hexerei seine Seele bannen, und als er im Film das wie von Geisterhand auf sich zufahrende Bild des Zuges sah, stürzte er vor Schreck und fühlte sein letztes Stündlein kommen. Die Entwicklung nahm ihren Lauf und heutzutage findet man an 3D-Filmen und virtuellem Raum schon nichts Außergewöhnliches mehr. Eine Imitation mag noch so wahrheitsgetreu und authentisch erscheinen, die Leute sind durch die billige und einfache Verfügbarkeit von Kopien abgestumpft. Der Mensch von Heute ist zwar weltläufig und wählerisch, doch mit seinen Gedanken immer schon woanders und hat so allmählich die Ruhe und Geduld verloren, das Essenzielle zu erfassen.

Die Reproduktion hat das kaufmännische Prinzip, nach dem etwas umso teurer war, je seltener es war, außer Kraft gesetzt. Stattdessen gilt, dass etwas je wertvoller ist, desto häufiger es kopiert wird. Die Vervielfachung der Stückzahlen hat der Bevölkerung das Wesentliche nicht näher gebracht. So macht sich der Wert einer Sache nicht an seiner Qualität fest, sondern an den Vorstellungen und Begehrlichkeiten, welche diese beim Menschen auslösen. Beim Konsum dreht sich heute mehr und mehr alles um die „Aufmerksamkeit“ des Konsumenten. Baudrillard zufolge ist Konsum ein abstrakter Partizipationsprozess und für den Konsumenten eine Kulturhandlung, durch die er nach Klassensymbolen strebt. Dabei treibt China die Konsumideologie mehr als jedes westliche Land auf die Spitze. Die große Masse hofft, durch Konsum und Verschwendung das Etikett, das sie als „Durchschnittsmenschen“ kennzeichnet, loszuwerden. Darin liegt die Absurdität der Reproduktion.

Prometheus‘ Fälscherbande

Warum der Fälschung einen Riegel vorschieben? Die Wucht der Reproduktion ist zu gewaltig, und so breitet sie sich aus wie ein Virus oder eine Seuche. In der Produktion sorgen Kopien für den Profit und in den Medien kanalisiert die Vervielfältigung die politische Macht. In China waren es ursprünglich Siegel und Steinabreibungen, welche die Druckkunst inspirierten. So war diese von Anfang an – in Form von kaiserlichem Siegel und Stelen – mit der Machtposition von Kaiser und Volk aufs Engste verknüpft. Es wäre also zu einseitig, die Raubkopie allein aus der Perspektive ihres ökonomischen Nutzens zu diskutieren. Walter Benjamin zufolge hat das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit seine magische Aura eingebüßt. Grundlage des Kunstwerks sei nicht mehr das religiöse Ritual, sondern das politische Ereignis. Denkt man diesen Gedanken weiter, so findet man in unserer Zeit der Verweltlichung und des globalen Kapitalismus die Politik nun ebenso verblasst. Nationale und internationale Politik schert man über einen Kamm, und jegliches Thema wird, mit oder ohne Absicht, entweder gleich komplett von der Wirtschaft vereinnahmt oder man pfropft ihm auf der Grundlage der ökonomischen Interessen noch etwas an Bedeutung auf.

Vorführung: Herstellung von Steinabreibungen, Xian, Foto: Qian Yuchun © ImagineChina
Vorführung: Herstellung von
Steinabreibungen, Xian
Foto: Qian Yuchun © ImagineChina
Die Reproduktion ist wie das Kapital an sich unparteiisch und neutral, weshalb sie jeder Macht zum Handlanger werden kann. Renaissance und Aufklärung, Reformation und Gegenreformation, die sich als historische Strömungen entweder gegenseitig verstärkten oder gegeneinander arbeiteten, warfen für ihre Propaganda stets die Druckerpresse an.

Jede mächtige Regierung hegt die Hoffnung, es möge nur eine einzige korrekte Meinung herrschen und versucht ihre ahnungslosen Untertanen zu bevormunden. Im extremsten Fall kerkert man Autoren ein und verbrennt Bücher. Beispiele dafür lassen sich überall und zu jeder Zeit finden: Chinas erster Kaiser ließ Bücher verbrennen und Gelehrte bei lebendigem Leibe begraben; die römischen Kaiser verbrannten christliche Werke und die Christen wiederum die Schriften der Häretiker; später ließ Hitler Bücher verbrennen, und auch während der Kulturrevolution fiel Schriftgut dem Feuer zum Opfer. Innerhalb des Systems der Zensur unterdrückt man die mediale Vervielfältigung mit administrativen Mitteln, und wenn man das nur lange genug betreibt, kommt es sogar zu einer verinnerlichten Selbstzensur und jegliche Kreativität wird wirksam abgewürgt, während Heuchelei, Schönfärberei und auch die Ironie zu Hochleistungen angespornt werden.

Infolge seiner relativ toleranten Publikationspolitik wurde Holland zwischen dem 17. und dem 19. Jahrhundert zum europäischen Paradies der Verleger, in welchem zahlreiche als Häretiker abgestempelte Intellektuelle Zuflucht fanden. Während man die Aufklärer damals, wie einst den Feuer stehlenden Prometheus, als „Räuber“ bezeichnete, kann man heute von Glück sagen, dass ihre ketzerischen Ansichten inzwischen weitgehend zum gesunden Menschenverstand gehören. In Zeiten strenger Zensur war die illegale Vervielfältigung – die Raubkopie – die letzte Überlebensnische liberaler Gedanken und Nährboden der Zivilgesellschaft.

Das 18. Jahrhundert gilt in Europa als das Jahrhundert der Aufklärung und des Lichts, was mehr oder weniger der Blüte des Verlagswesens, ja selbst den aus der Not geborenen Raubkopien zu verdanken ist. Erst viel später entledigten sich die Nachrichtenmedien ihres Mitläuferstatus‘, um nach westlichem Verständnis eine öffentliche Kraft neben Klerus, Adel und dem Dritten Stand zu bilden. Dabei liefen sie immer dann Gefahr, wieder in ihre alte opportunistische Rolle zurückzufallen, wenn mächtige Regierungen unter anderem durch Zensur willkürlich das Gemeingut der freiheitlichen und vorurteilslosen Nachrichtenverbreitung unterminierten. Nur wenn es einen öffentlichen Raum gibt, können die Menschen sich gegenseitig die Augen öffnen und das praktizieren, was Kant als „öffentlichen Gebrauch“ der eigenen Vernunft bezeichnete. Erst dann können die Bürger verantwortungsvoll argumentieren, eine vernünftige Argumentation akzeptieren und dies auch noch gerne tun. Ohne einen öffentlichen Raum werden Gedanken nie mehr als eine geschätzte Meinung unter vier Augen sein, ohne ihn verflucht das Volk mit knirschenden Zähnen eine ferne Obrigkeit und korrupte Beamte, während es sich wegen mangelnder Nachrichtentransparenz wilden Spekulationen hingibt und Gerüchte in die Welt setzt. Unwissenheit ist der beste Nährboden des Pöbels, und dieser wird zum Multiplikator der despotischen Logik.

Weiter zu
Die Kopie – Potenziale und Tabus (Teil II)
Text: Dr. Wang Ge (王歌)
Philosophische Abteilung der CASS
Übersetzung: Julia Buddeberg
Juni 2010

    Zeichensalat?

    Chinesische Namen werden in der deutschen Sprachversion dieser Website auch in chinesischen Zeichen wiedergegeben. Wenn Sie in Ihrem Browser keinen chinesischen Zeichensatz installiert haben, werden statt chinesischer Zeichen Kästchen, Fragezeichen oder andere Symbole angezeigt.
    del.icio.us
    Mister Wong
    Socializer
    TopTop