Kulturelles Gedächtnis

Neue Formen des Erinnerns – das deutsche Gegenwartstheater auf der Suche

Szene aus „Trust“ von Falk Richter
Szene aus „Trust“ von Falk Richter und Anouk van Dijk, Foto: Heiko Schäfer
Szene aus „Trust“ von Falk Richter und Anouk van Dijk, Foto: Heiko Schäfer

Eine neue Welle dokumentarischen, politischen Theaters hat Deutschland seit Ende der 90er-Jahre erfasst. Neu an ihr mag sein, dass sie verstärkt Volkes Stimme zu Gehör bringt, Privatpersonen, Zeitgenossen, Alltags-Spezialisten Zeugnis ablegen lässt. Landauf, landab werden mit deren Hilfe auf den Bühnen das kulturelle Gedächtnis befragt, die kollektive Erinnerung erforscht oder exemplarische Biografien beleuchtet, allein schon, weil die öffentlich finanzierten Staats- und Stadttheater sich gesellschaftlich dazu verpflichtet fühlen.

Wie aber ist die Erfahrung der Theaterleute mit dem Publikum? Machen sie damit Theater für oder gegen ihre Zuschauer? Interessieren diese sich für Inhalte, Ästhetik oder Skandale? Gegenüber der Zeitschrift Theater heute (Jahrbuch 2008) äußerte Thomas Ostermeier, Intendant der Berliner Schaubühne, sein Publikum wolle sich mit ihm nicht einmal über wichtige Fragen der Macht und des historischen Materialismus streiten. Inzwischen hat sich sein Eindruck verändert: Falk Richters aktuelle Krisen- und Beziehungsrecherche Trust, Yael Ronens Dritte Generation über den Nahostkonflikt vor dem Hintergrund deutscher Geschichte und Thomas Ostermeiers eigene Bühnenadaption von Fassbinders Nachkriegsdrama Die Ehe der Maria Braun – allesamt Erinnerungskultur im besten Sinne – seien an seinem Haus höchst erfolgreich. „Man mag es sich schön reden, aber ich habe das Gefühl, dass die Finanzkrise eine Neuorientierung zu schwierigeren, komplexeren Inhalten bewirkt hat. Vielleicht nimmt man anstrengenderes Denken eher in Kauf, wenn man vor den Trümmern steht.“ Womöglich aber handele es sich einfach um gute und daher gut besuchte Produktionen. Immerhin habe sich unter den Berliner Podien der Streitraum durchsetzen können, der an Ostermeiers Haus seit Jahren einmal monatlich stattfindet. Hier beobachtet der Intendant eine gesteigerte Sehnsucht der Besucher, tiefer als bei üblichen deutschen Fernseh-Talkshows in eine politische Sachlage einzutauchen. Dass sich Regisseure in Ermangelung von passenden Dramen gern mit der Form der Show oder Revue behelfen, stört ihn überhaupt nicht: „Schon Bert Brecht und Erwin Piscator wussten, dass man zuallererst wegen der Unterhaltung ins Theater geht, das war schon immer Lehrmeinung des politisch engagierten Theaters.“

LKW-Fahrten und Aktionärsversammlungen als Bühne

Ganz eigene Formen sucht die Künstlergruppe Rimini Protokoll mit wechselnden "Experten des Alltags". Im Herbst 2009 entstand an den Münchner Kammerspielen die Sicherheitskonferenz. Hier tagen die Zuschauer zusammen mit einem kunterbunten Häuflein von Afghanistan-, Flüchtlings- und Sicherheitsspezialisten. "Die Dramaturgien von Dokumentarfilmen sind ja auch andere als die eines Thrillers. Am zufriedensten bin ich, wenn Theaterformen wie Lastwagenfahrten, Telefongespräche, Aktionärsversammlungen entstehen“, sagt Regisseur Stefan Kaegi. Im Gegensatz zum “Virtuositäts-Spektakel im luftleeren Raum der L'Art-pour-l'ar“t„ benütze man die Kunst derzeit eher, um näher ans Leben heranzukommen, als um davor zu flüchten. Und sein Kollege Daniel Wetzel, der 2007 zusammen mit Helgard Haug in Stuttgart Peymannbeschimpfung zeigte, berichtet: „Wir waren noch nie in der Situation, unser Theater gegen das Publikum durchsetzen zu müssen.“

Vor Rede- und Debattierlust platzen

Den heiligen Zorn auf gesellschaftliche Missverhältnisse, der den Schauspieler Volker Lösch vor Jahren ins Regiefach wechseln und politisches Theater machen ließ, kann man heute noch in seinen Produktionen spüren. Seine anklagenden Inszenierungen, in denen er häufig Laienchöre einsetzt und klassische Stücke mit fremden Texten konfrontiert, werden von Kritikern kontrovers diskutiert, wie im Dezember 2009 etwa Berlin Alexanderplatz unter Beteiligung von Ex-Häftlingen.

Szene aus „Berlin-Alexanderplatz“, Schaubühne Berlin, Foto: Heiko Schäfer
Szene aus „Berlin-Alexanderplatz“, Schaubühne Berlin, Foto: Heiko Schäfer

In Stuttgart, wo er am Schauspiel Hausregisseur ist, herrsche inzwischen ein gutes Einverständnis mit dem Publikum, sagt Lösch. Es sei konservativ, was die Moral angehe, dabei aber offen, streitlustig und bereits seit mehreren Jahren verstärkt politisch interessiert. Da komme es schon vor, dass eine ältere Dame ihn im Foyer am Ärmel packe und ihr Interesse am Thema artikuliere, obwohl ihr die Aufführung vielleicht nicht gefallen habe. Sein Eindruck: “Die Zuschauer sind beleidigt, wenn sie nicht gefordert werden.“ Das Gesprächsbedürfnis in den Diskussionsrunden nach den Vorstellungen sei immens. "Es geht dabei selten um Ästhetik, vorrangig um die Inhalte. Und man hört heraus, dass nicht das schlechte Gewissen, sondern ein Solidaritätsgefühl die Zuschauer applaudieren lässt. Das ist doch das Beste, was dem Theater passieren kann.“ Auch wenn er seine Chöre rekrutiert oder Textcollagen recherchiert, stößt er auf große Resonanz: „Die ehemaligen Häftlinge zum Beispiel platzten fast vor Rede- und Debattierlust.“ Und in Dresden hatten sich im Vorfeld zur Woyzeck-Inszenierung stattliche 529 Theaterbesucher bei einer Umfrage, die später in die Stücktextcollage eingeflossen ist, über ihre sozialen Verhältnisse und Ausländerpolitik geäußert: “Manche hatten ganze Romane geschrieben.“ Die Arbeiten von Jungdramatikern interessieren Lösch zumeist nicht, sie stellten nur „Mini-Ausschnitte“ der Wirklichkeit dar. Wichtiger sind ihm die Reibungsflächen, die in seinen Textcollagen entstehen. Auch er beobachtet einen intensiven Suchprozess unter den Theatermachern: “Noch nie gab es so viele unterschiedliche Textquellen auf der Bühne. Alles ist möglich.“
Text: Christine Diller
Kulturjournalistin, München
Januar 2010
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