Heimat – was ist das?

Geburtsort Berlin

Schwedter Steg am Prenzlauer Berg © Manuela Hoffmann
Schwedter Steg am Prenzlauer Berg © Manuela Hoffmann


Diesen Text schrieb die Schriftstellerin Monika Maron 2003. Er wurde im gleichnamigen Band Geburtsort Berlin im S. Fischer Verlag zusammen mit sieben anderen Texten veröffentlicht.

An einem sehr warmen Frühlingstag vor dreiundvierzig Jahren habe ich zum ersten Mal gedacht, dass ich die Stadt, in der ich geboren wurde und fast alle Zeit meines Lebens verbracht hatte, liebe. Ich fuhr mit der Straßenbahn der Linie 46 in Richtung Friedrichstraße, und gleich nach der Kurve von der Invalidenstraße in die Chausseestraße, während ich durch das Rückfenster des letzten Wagens auf den heißen Asphalt dieser hässlichen, vom Krieg verunstalteten Straßenkreuzung sah, überkam mich ein mir bis heute unerklärliches, gleichermaßen beunruhigendes wie beglückendes Gefühl, für das nur das Wort Liebe zuständig sein konnte. Ich sah auf die verdreckte Asphalthaut der Chausseestraße und dachte, dass ich sie umarmen wollte, mich mit ausgebreitenden Armen flach auf die Straße legen und die Straße, die Stadt umarmen. Ich wohnte damals für ein Jahr in Dresden, wo ich als Fräserin im Flugzeugwerk Klotzsche arbeitete. An fast jedem Wochenende trampte ich nach Berlin. Warum mir ausgerechnet dieser eine Augenblick in der Straßenbahn Invaliden- Ecke Chausseestraße als mein Liebesbekenntnis zu Berlin in Erinnerung geblieben ist, kann ich nicht sagen. Vermutlich war ich damals eher unglücklich, so dass mein stummer Gefühlsausbruch kaum der Ausdruck weltumspannender, für die hässlichsten Winkel ausreichender Lebensfreude gewesen sein dürfte, sondern eher ein Erkennen und die Zugehörigkeit zum Erkannten. Ich hatte mir nie vorstellen können, nicht Berlinerin zu sein, sondern Leipzigerin oder Greifswalderin, vielleicht sogar Eberswalderin oder Hohenselchowerin. Nicht in einer Hauptstadt geboren zu sein, hielt ich für ein zweitklassiges Schicksal, selbst wenn es sich um die Hauptstadt eines lächerlichen Staates handelte. Ich habe es der Stadt auch nie angelastet, dass sie unter die Barbaren geraten war, die sie verkommen ließen und verschandelten; es erging der Stadt ja nicht anders als uns selbst. Wäre Berlin eine Person gewesen, hätte sie zu uns gehört und nicht zu denen.

Wenn mich jemand fragt, ob ich gern in Berlin lebe, antworte ich meistens: Ich bin Berlinerin; und meisten geben sich die Fragesteller mit dieser Antwort zufrieden. Entweder setzen sie voraus, dass jeder Berliner unbedingt gern in seiner Stadt lebt, oder, was von ihrer Verständigkeit zeugte, sie wissen, dass in solchem Fall die Frage ebenso ins Paradoxe mündet wie die, ob man gern das Kind seiner Eltern sei, weil man eben ist, was man ist; oder man ist nicht.

1988 zog ich nach Hamburg und lebte zum ersten Mal ohne das Versprechen auf Rückkehr in einer fremden Stadt. Es war Frühsommer und Hamburg war sehr schön mit seinen weißen Häusern, den wuchernden Rhododendronbüschen, dem verheißungsvollen Geklingel der ankernden Segeljachten, mit den vielen Brücken über den Alsterkanälen, und ich war glücklich, in einer so schönen Stadt zu wohnen. Das Bild vom grauen, albtraumhaft zerbröselnden Ost-Berlin sank unter der Hamburger Pracht wie ein Schutthaufen in sich zusammen. Trotzdem erinnere ich mich genau an das seltsame Gefühl mit siebenundvierzig Jahren plötzlich in einer Stadt zu leben, in der keine Straße eine Erinnerung für mich bereithielt und kein erleuchtetes Fenster mir etwas bedeutete. Die Stadt war leer von mir, was mich an manchen Tagen berauschte und an anderen erschreckte.

Berlin hingegen ist von mir bevölkert. In Berlin könnte ich mich, wenn ich es darauf anlegte, hundertmal am Trag treffen, in jedem Alter, glücklich oder heulend, allein, in Gesellschaft, verliebt, verlassen, überall hocke ich und warte darauf, dass ich vorbeikomme. Ich müsste nur in einer Sommernacht, morgens gegen vier, durch die Schönhauser Allee laufen, dann könnte ich sehen, wie ich, etwas trunken, glaube ich, neben einem jungen Mann, ich weiß nicht mehr welchem, eine Flasche Milch aus einem der angelieferten Kästen vor einem Lebensmittelgeschäft nehme, nicht ohne das Geld anstelle der Flasche zu hinterlassen, und die Milch im Weitergehen trinke. In der Nacht hatte es geregnet. Die Straße unter meinen nackten Füßen ist warm und glitschig vom regenfeuchten Staub. Die Sandalen hängen am Zeigefinger meiner linken Hand. Wenn ich nach meinen liebsten Orten in Berlin befragt würde, müsste ich unbedingt die Schönhauser Allee nennen, an einem Sommermorgen gegen vier, zwischen Stargarder- und Milastraße. Aber wer sollte das verstehen?

Blick auf die Monbijou-Brücke und das Bode-Museum mit Museums-Insel, 1956, Bild 183-41736-0005, Foto: Rudi Ulmer (Ausschnitt), © Bundesarchiv
Blick auf die Monbijou-Brücke und das Bode-Museum mit Museums-Insel, 1956, Bild 183-41736-0005, Foto: Rudi Ulmer (Ausschnitt), © Bundesarchiv

Auf der Monbijou-Brücke vor dem Bode-Museum kann ich mir zu allen Jahreszeiten begegnen. Ich lehne an dem bauchigen Geländer oder sitze auf den Stufen, rauche ein Zigarette und blicke westwärts über die Spree auf die Fewa-Leuchtreklame an der Brücke zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Schiffbauer Damm: die rot-blau-gelben Neon-Umrisse einer runden Frau mit Dutt, die in einem Zuber Wäsche wäscht und dabei kleine Seifenblasen in die Luft jagt. Ich war gerade im Theater, allein, habe zum fünften Mal den „Galilei“ oder den „Guten Menschen von Sezuan“ gesehen (zweiter Rang, Stehplatz für fünfzig Pfennige), ich fühle mich auserwählt, weil ich zum fünften Mal den „Galilei“ oder den „Guten Menschen von Sezuan“ gesehen habe, weil ich vier Stunden oder länger stehend ausgeharrt habe, weil ich allein bin, vor allem weil ich allein bin. Ich bin siebzehn oder achtzehn oder zwanzig Jahre und weiß, dass der Mensch einsam ist in seinem Leben.

Auf der anderen Seite der Linden, am Hausvogteiplatz, lag meine Schule, das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster und spätere 2. Oberschule Mitte, ein gefängnisähnlicher Klinkerbau, die Klassenzimmer um einen Lichthof angeordnet, in Nachbarschaft des katholischen St. Josephs-Krankenhauses, aus dem an jedem Freitag ekliger Fischgeruch in unsere Klassenzimmer zog. Es ist gerade Pause, am Rand des Schulhofs stehen kleine Gruppen, Jungengruppen, Mädchengruppen, die meisten laufen langsam im Kreis um den Hof. Ich kann mich nicht finden, ich bin krank oder schwänze die letzten Stunden und sitze stattdessen mit einer Freundin auf einer der Treppen an der Spree, wo wir über die Liebe sprechen oder über das Theater. Ihre Mutter arbeitet am Theater, der Glanz fällt auch auf ihre Tochter, ein matter Abglanz noch auf mich, wenn ich mit ihr über das Theater spreche.

Zwei Minuten Fußweg von der Schule entfernt war der Niquet-Keller, den wir Nicki-Keller nannten und in den schon Napoleon eingekehrt sein wollte. In dem trüben Licht, das die alten Bleiglasfenster von außen in den Raum lassen, finde ich an einem Tisch in der rechten Ecke mich mit einer anderen Freundin. Wir haben denselben Vornamen. Auf dem Tisch liegt eine kleine flache Tüte mit sechs Zigaretten der Marke Jubilar, die man einzeln kaufen kann. Wir trinken Fassbrause und überlegen, was wir trinken könnten, wenn wir mit einem Jungen ausgehen. Brause ist uns peinlich, Bier schmeckt uns nicht. Meine Freundin sagt, sie hätte neulich einen Kaffee bestellt. Kaffee kommt uns richtig vor.

Kurz nach meiner Schulzeit, als der ganze Fischerkiez Hochhäusern weichen musste, wurde der Niquet-Keller in die Taubenstraße deportiert und hieß, weil er nun nicht mehr im Keller lag, Niquet-Klause. Die gibt es inzwischen aber auch nicht mehr.

Vieles gibt es nicht mehr. An den alten Alexanderplatz kann ich mich selbst dann nur mit Mühe erinnern, wenn ich ihn auf Postkarten sehe. Er war einmal ein richtiger Platz, von unzähligen gefährlichen Straßenbahnen durchkreuzt. Da, wo einmal die Markthalle stand, gleich am Eingang, treffe ich mich an der Hand meiner Tante Marta, die mir gerade eine Tüte mit roten Krebsen kauft, fünf Pfennig das Stück. Ich will die Krebse nicht essen, ich will mit ihnen spielen. Es ist Sommer, kurz nach dem Krieg. Das fiel mir ein, als ich dreißig Jahre später meinem Sohn einen Schweinefuß kaufen musste, mit dem er spielen wollte.

Monika Maron in Peking, Oktober 2011 © Goethe-Institut Peking
Monika Maron, Peking, Oktober 2011
© Goethe-Institut Peking
Mit den Jahren schwindet das Schöne aus den Bildern. Vielleicht fiel mir mit den Jahren auch nur seine Abwesenheit auf. Woher sollte das Schöne vorher gekommen sein? Aus den Trümmern? Aus der Nachkriegsarmut? Vielleicht aus dem Frieden, den ich ja erst kennenlernte. Die Frage, wofür ich das Leben wohl gehalten hätte, wenn der Krieg zwanzig oder dreißig Jahre fortgedauert hätte, wie später in Vietnam oder im Nahen Osten, und wenn ich vor seinem Ende gestorben wäre, diese Frage beschäftigt mich schon lange. Hätte ich dann geglaubt, das Leben sei Krieg? Oder hätte ich trotzdem geahnt, was Frieden ist? Und woher sollte jemand, der nie eine schöne Stadt gesehen hat, wissen, was eine schöne Stadt ist? Dann ist eben schön, was schöner ist als etwas anderes. Eine halbzerbombte Straße ist schöner als eine ganzzerbombte Straße. Ruinen, aus denen Bäume wachsen, sind schöner als Ruinen, aus denen keine Bäume wachsen. Vielleicht so.

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Monika Maron: Geburtsort Berlin (II)
Text: Monika Maron
Schriftstellerin, Berlin
November 2011
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