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Die Innovationen der chinesischen Mikroblogs

Foto: Zheng Shuai / Imagechina
Foto: Zheng Shuai / Imaginechina
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Der Ursprung der chinesischen Mikroblogs, allgemein „Weibo“ genannt, ist das von den Amerikanern erfundene Twitter. Der Kerngedanke des technologischen Designs von Twitter ist sehr simpel – als „Follower“ Anderen Aufmerksamkeit schenken und selbst „Follower“ haben. Der User „folgt“ Menschen, die ihn interessieren, und sobald diese einen neuen Tweet posten, wird der User benachrichtigt. Der Twitterer muss nicht reagieren, was eine Netzverbindung in nur einer Richtung bei Twitter bewirkt. Twitters Erfolg besteht aus der Besonderheit der Verschmelzung des Chats mit einer Plattform für soziale Netzwerke und mit dem Blog. Seine einfachen und praktischen Features haben es schnell zu einer der frequentiertesten Nachrichtenquellen werden lassen und damit zu einem Treffpunkt für Diskussionen, die sich aus den Nachrichten ergeben. Auf dem Grundmechanismus von Twitter aufbauend, hat der Service der chinesischen Mikroblogs Neues geschaffen.

Kommentiertes Weiterleiten - die Innovation bei Chinas Mikroblogs

Zunächst sind es die Kommentare zu den Tweets. Wie in den Blogs können die User jeden Tweet kommentieren, das ist eine Verbesserung der chinesischen Mikroblogs im Vergleich zu Twitter. Und diese Verbesserung war ein wichtiger Auslöser des explosionsartigen Wachstums von Mikroblogs in China, da sie der Klatschsucht chinesischer User entgegenkommt. Wenn man einen Tweet verfasst und dieser sofort von Hunderten von Leuten kommentiert wird, dann gerät man in Hochstimmung. Denn was man geschrieben hat, wird von anderen weitergeleitet, es übt gesellschaftlichen Einfluss aus und stößt vielleicht etwas an. Auch die Kommentatoren sind begeistert, weil sie sich in ihren Kommentaren alles von der Seele schreiben können, um die Blogger, mit denen sie sympathisieren, zu unterstützen.Diese simple Funktionsverbesserung führte beispielsweise zu einem rapiden Anstieg der Verbreitung und des Einflusses eines chinesischen Mikroblogs namens Weibo.com der Firma Sina. Gäbe es keine Kommentare zu den Tweets, würden viele Ereignisse auf den Mikroblogs nicht so stark kursieren, wie es jetzt der Fall ist. Der leitende Geschäftsführer und Generaldirektor von Weibo.com, Cao Guowei (曹国伟), weist darauf hin, dass Weibo.com von Anfang an dieses Modell des "kommentierten Weiterleitens" angewendet hat, und dass es multimediafreundlich ist. Twitter hingegen ermögliche eine Übertragung nur in eine Richtung, und es unterstütze nichts Multimediales. Dieser Unterschied habe Weibo.com zu einer Twitter weit übertreffenden Bindekraft verholfen.Dieser Unterschied sei ein erheblicher Vorteil von Weibo.com im Vergleich zu Twitter.

Multimedia und die Suchfunktion von Mikroblogs

Wie Cao Guowei meint, ist ein weiterer wichtiger Grund für die Verbreitung von Mikroblogs, dass sich ihre Dienstleister von Anfang an um multimediale Übertragungsmöglichkeiten bemüht haben, die Bilder, Audio, Animation und Video umfassen.

Chinas Netizens teilen gerne Bilder, Videos und Musik; Chinas Internet und sogar das Mobilfunknetz sind bereits sehr auf die Übertragung multimedialer Inhalte eingestellt. Für Mikroblogs gibt es keinen Grund, ausschließlich Textinhalte zu unterstützen. Twitter dagegen unterstützt auch Jahre nach seiner Einführung weder das Hochladen von Bildern, noch audiovisuelle Übertragung von Video oder Musik.

Anders als Twitter hat Weibo.com seit seiner Einführung großen Wert auf Integration von Multimedia-Inhalten gelegt. Weibo.com hat damit die Begrenztheit von Twitter durchbrochen, es hat die User darin unterstützt, Bilder hochzuladen und hat Bearbeitungsfunktionen hinzugefügt.

Anschließend brachte es in Verbindung mit Websites wie Youku, Ku6 und Tudou noch Video-Blogeinträge
siehe Kulturnetz-Artikel Webvideos: Von der Parodie zur Werbung https://de-cn.net/dis/web/de9323195.htm
heraus. Die Verbindung von Bildern, Videos und Mikroblogs hilft dem User noch mehr dabei, sich auszudrücken. Das hat ein neues Szenario erzeugt: Im Vergleich zu Twitter ist die Timeline auf Sina Weibo voll von Bildern und Videos, einige der Mikroblogs mit den meisten Reblogs enthalten oft auch Bilder und Videos. Solche Blogeinträge sind besonders populär.

Auf der Grundlage von Bildern und Videos brachte Weibo.com im Februar 2012 in einem weiteren Schritt Mikroblogs mit Musik heraus. Wenn der User einen Blogeintrag veröffentlicht, kann er direkt auf eine Online-Musikadresse zugreifen und seine Lieblingsmusik mit seinen Fans teilen. Findet man keine zuverlässige Musikquelle, ist das auch kein Problem. Weibo.com ist mit der Plattform Sina Music verbunden, die über ein großes legales Musikangebot verfügt. Allein über den Song-Titel oder den Namen des Sängers kann man das Lied seiner Wahl finden, um es dann bei Weibo.com einzubinden und es mit seinen Fans zu teilen.

Außerdem haben mit der rapiden Entwicklung des Mikroblogs in China mehr Nutzer begonnen, Mikroblogs als Suchmaschine zu nutzen. Die "Live-Suche" unterscheidet sich wesentlich von der herkömmlichen Suche, weil sie gerade veröffentlichte Nachrichten in den Mikroblogs sofort auffindbar macht. Bei den früheren Suchmaschinen waren die Nachrichten erst auffindbar, wenn sie bereits eine gewisse Zeit im Netz waren und die Suchmaschine sie erfasst hatte. Dieser Vorteil hat die Suchfunktion der Mikroblogs zu einer starken Waffe bei der gezielten Suche nach brandaktuellen Nachrichten gemacht.

Die Eigenart der chinesischen Schriftzeichen und lange Mikroblogs

Die Entwicklung der chinesischen Mikroblogs ist in einer überraschenden Weise mit dem speziellen Vorteil chinesischer Schriftzeichen im Informationszeitalter verbunden. Angesichts der Übertragungsbeschränkung bei einer SMS hatte Twitter festgelegt, dass der Twitterer maximal 140 Zeichen lange Nachrichten verschicken darf. Später, als diese Anwendung in China eingeführt wurde, hat man entsprechend die Begrenzung auf 140 Schriftzeichen festgelegt. Es gibt aber einen großen Unterschied zwischen 140 chinesischen und 140 englischen Zeichen, der Informationsgehalt ist beim Chinesischen drei Mal so hoch wie im Englischen. Das Chinesische ist in Bezug auf den Informationsgehalt pro Einheit im Vorteil.

Wie groß ist dieser spezielle Vorteil des Chinesischen?

Im journalistischen Bereich kann man mit 140 Schriftzeichen voll und ganz einen Artikel schreiben, der die „fünf W“ abdeckt: wann, wo, wer – alles Notwendige passt hinein. Und dann ist sogar noch Platz für einen Kommentar. Aufgrund dieses Vorteils werden die Mikroblogs in China im großen Maßstab als Medium genutzt, sie werden zur Übermittlung und zum Kommentieren von Nachrichten herangezogen und haben so eine Vielzahl von öffentlichen Diskussionen entstehen lassen.

Und nicht nur das – die Weibo-Dienstleistungsanbieter haben außerdem einen Service für lange Mikroblogs entwickelt, der die ursprüngliche Inhaltsbeschränkung von Twitter komplett durchbricht und die Mikroblogs zu Zugängen zu Blogs und längeren Aufsätzen macht. Die sogenannten „Lang-Weibos“ wandeln die vom User eingegebenen Schriftzeichen in Bilder um, denen Links unterlegt werden. Bei einer Nachricht mit zu vielen Schriftzeichen kann so über die Einbindung eines Bildes das Problem der Begrenzung der Zeichenzahl gelöst werden.

Da Weibo.com von Sina einen strengen Textzensurmechanismus einsetzt, werden die vom User veröffentlichten Nachrichten systematisch archiviert, wenn sie gegen eine Regel des Zensurmechanismus verstoßen, wobei die Daten der genauen IP-Adresse, der Besuchszeit und des mobilen Endgeräts (Handy, iPad) registriert werden, um von den entsprechenden Stellen eingesehen werden zu können. Unter diesen Umständen bieten die„Lang-Weibos“ einen Weg des Schutzes der Privatsphäre, da durch die trickreiche Verwendung von „Bildern“ der zu übertragende Textinhalt verborgen werden kann. Da der Filterungsmechanismus bei der Prüfung von Bildinformationen noch Schwachstellen hat, bewahrt die Verwendung von Bildern anstelle von Schriftzeichen zu einem gewissen Grad die persönliche Sicherheit und durchbricht die Informationszensur.

Warum finden Mikroblogs in China so breite Anwendung?

Erstens erspürt man auf diesem Weg den Lebensrhythmus seiner Freunde, man weiß immer, was sie machen und was sie denken. Das ist ein Schlüsselfaktor für die Beliebtheit der Mikroblogs.

Zweitens verschaffen sie einem mehr soziale Beziehungen im realen Leben, anders ausgedrückt: Wenn man die Mikroblogs nutzt, hat man neben der Pflege der Kontakte mit alten Freunden auch immer den Wunsch, neue Freundschaften zu schließen. Und obwohl man viele Freunde nicht unbedingt schon getroffen hat, ist man sich aufgrund des langfristigen Austauschs über die Mikroblogs doch sehr vertraut. Auch das ist ein Grund, warum die Mikroblogs so aktiv genutzt werden.

Drittens ist da der Ausdruck seiner selbst. Die Menschen sehnen sich danach, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, sie hoffen darauf, dass die Welt erfährt, was sie tun und denken. In der modernen instrumentalisierten Vernunftsgesellschaft entsteht in den Menschen oft das Ohnmachtsgefühl, nichts weiter als ein unbedeutendes Rädchen in einer großen Maschine zu sein. Um diesem Zustand der "Entindividualisierung" zu begegnen, hoffen die Menschen, über die Mikroblogs der Welt ihre Andersartigkeit kundzutun.

Viertens ist das aktive Teilen zu nennen. "Wir müssen die Freude des Gebens wieder neu lernen: Du gibst, weil du so viel hast." In einer immer wohlhabenderen Gesellschaft ist die geldliche Belohnung nicht mehr der einzige Anreiz. Sobald Zeit und Geld im Überfluss vorhanden sind, suchen die Menschen gemeinsam nach der Freude der Zusammenarbeit und wollen die Früchte ihrer Arbeit teilen.

Der fünfte Grund hat mit den Nachrichten zu tun: Durch den Live-Charakter der Mikroblogs, die bequeme Übermittlung und die einfache Erstellung von externen Nachrichten kann man die Geschwindigkeit der Berichterstattung und die Zahl der Nachrichtenquellen erhöhen und so den Umfang der Nachrichtenverbreitung wesentlich vergrößern.

Hu Yong ist Professor an der School of Journalism and Communication an der Peking-Universität und promovierter Politologe. Er hat viele Beiträge zu Fragen der digitalen Gesellschaft veröffentlicht,und gilt als einer der ersten, der die Bedeutung der digitalen Entwicklung für die chinesische Gesellschaft erkannt hat.. Sehr bekannt wurde er mit der Übersetzung des Werks Being Digital (deutscher Titel: Total digital) von Nicholas Negroponte aus dem Jahr 1996, die in China Furore gemacht hat. Später veröffentlichte er die erste umfassende Beschreibung des Internets und seiner Zukunftstendenzen als Monographie unter dem Titel König Internet (Hainan Press und Taiwan Jieyou Press, 1997).
Text: Hu Yong (胡泳)
Übersetzung: Jessica Mayer
August 2012
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